A. Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt

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Titel
Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941


Autor(en)
Mattioli, Aram
Erschienen
Zürich 2005: Orell Füssli Verlag
Anzahl Seiten
Preis
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Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Aus der Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen sind Namen wie Guernica, Lidice, Oradour in das kollektive Gedächtnis eingegangen. Sie nehmen dort als europäische «lieux de mémoire» einen festen Platz ein. Wie ganz anders ist es jedoch mit analogen Verbrechen des faschistischen Regimes im afrikanischen Raum. Namen wie die der libyschen Oase Tazerbo oder der abessinischen Stadt Dessiè? Nie gehört, obwohl hier durchaus vergleichbare Verbrechen stattfanden. Hier flog die italienische Luftwaffe im einen Fall im Juli 1930 einen massiven Giftgasangriff und im anderen Fall im Dezember 1935 mit kalter Präzision zwei Angriffswellen gegen die Zivilbevölkerung. Aram Mattioli, Professor für neuere Geschichte an der Universität Luzern, erinnert mit seiner neuesten Studie an die unbestraft gebliebenen und weitgehend der Vergessenheit anheim gefallenen Gewaltexzesse während der «Pazifizierung» der libyschen Provinz (1911–1932) mit mindestens 100 000 Toten und während der Besetzung Abessiniens (1935–1941) mit 350 000 bis 700 000 Toten.

Das Zurückholen dieser Vorgänge in die Gegenwart ist nur eine der Zielsetzungen dieser gut dokumentierten Arbeit. Noch wichtiger ist das Aufdecken der Zusammenhänge zwischen Vorläufern und Nachfolgendem. Daher auch das Wort vom «Experimentierfeld» im Titel der Studie. Wirkungsgeschichten müssen oft stringente Nachweise schuldig bleiben. Was bedeutet es, wenn mit zusätzlicher Brutalität Krieg geführt, wenn Gewaltanwendung «entgrenzt», wenn das Tor zu einer neuen Dimension der Kriegführung aufgestossen wird? Mattioli gelingt es, über die allgemeine Plausibilität hinaus in diesem Fall die Vorbildwirkung aufzuzeigen, indem er beispielsweise General Badoglio zitiert, der in einer deutschen Ausgabe von 1937 (mit einem Vorwort Mussolinis) sich darüber ausbreitet, inwiefern die Italiener «grosse Lehren» für die künftige Kriegsführung zu vermitteln hätten und dabei vor allem den rücksichtslosen Einsatz von Übermacht meint (S. 117). Anderseits deuteten im gleichen Jahr deutsche Militärhistoriker wie Rudolf Ritter und Elder von Xylander den «neuzeitlichen Vernichtungskrieg auf kolonialem Boden» als richtungsweisende Zäsur in der Militärgeschichte (S. 192). Mattioli ist es wichtig, dass der Abessinienkrieg nicht in der Linie der vorangegangenen Kolonialkriege, sondern in der Perspektive der nachfolgenden allgemeinen Kriegführung gesehen wird.

Die italienische Kriegführung wird nicht isoliert betrachtet. Von den spanischen Giftgaseinsätzen gegen die Rif-Kabylen (1924–1926) heisst es, dass sie möglicherweise «geheimes Vorbild» (S. 97) gewesen seien. Auch die Briten scheuten nicht davor zurück, in ihrem Kolonialreich systematisch Zivilbevölkerung zu bombardieren, in Afghanistan, Indien, Irak, Palästina, Aden, Somaliland. Beizufügen ist, dass es über «Bomber Harris» auch eine personelle Kontinuität von den indischen, irakischen und iranischen Dörfern bis zu den deutschen Städten gibt.

Schliesslich geht es auch darum, die Legende vom italienischen Kolonialismus mit «humanem Antlitz» und die Vorstellung, dass der italienische Faschismus nicht rassistisch gewesen sei, zu korrigieren. Das zeigt das schon vor 1914 in Eritrea praktizierte Apartheidregime (S. 157) Im Krieg hatte dann nicht nur die Generalität kein Problem mit vorsätzlich genozidalen Aktionen, auch die «ordinary men» (Chistopher R. Brown) wie die gewöhnlichen Soldaten und wie viele einfache Kolonialisten hatten kein Problem, im Rahmen des Kriegs verbrecherisch zu handeln. Auch hier findet sich kriminelle Spur durch die Geschichte: Libyen-Veteranen waren Kämpfer in Abessinien, Abessinien-Veteranen dann wieder Kämpfer in Montenegro und im Kosovo. General Biroli ermahnte die Soldaten, es sei recht, wenn sie zu Hause brave Familienväter seien, hier aber, da «könnt ihr gar nicht genug Räuber, Mörder und Vergewaltiger sein» (S. 155).

Bemerkenswert ist, dass erst nach Jahrzehnten eine schonungslose Thematisierung dieser Vorgänge möglich wurde. 1947 hätten die italienischen Kriegverbrechen analog zum Nürnberger Verfahren abgeurteilt werden sollen. Die internationale Staatenwelt blickte aber – nach dem Wegschauen von 1935 – ein zweites Mal weg, die junge italienische Republik sollte geschont werden. In den aufgeschlossenen und auch an einer ernsthaften Vergangenheitsverarbeitung interessierten 1960er Jahren gab es in Italien (wie in der Schweiz) erste Versuche, gegen die kollektive Selbstabsolution anzutreten. Doch erst die günstige Konstellation um 1995 gestatte (wie in der Schweiz) einen offenen Blick in unerfreuliche Vergangenheit. Aram Mattiolis solide recherchierte und sorgfältig durchkomponierte Arbeit vermittelt nicht nur dem deutschsprachigen Publikum wichtige Erkenntnisse. Sie sollte deshalb schon bald auch in einer italienischen Version erscheinen.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941. Mit einem Vorwort von Angelo Del Boca. Zürich, Orell Füssli, 2005. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 1, 2006, S. 118-119.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 1, 2006, S. 118-119.

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